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Mittwoch, 19. November 2014

Spandau in der Hutmacherleiche (Teil 3)


Der Experimentalvortrag fand bald darauf vor geladenem Fachpublikum statt. Nach längerer Deliberation war man sich darüber einig, daß hier durch Mikroskopie die mikrokosmische Bedeutsamkeit des Leibes evident geworden sei. Durch Pinter angeregt, gelang es dem Astronomen Kummdopf, die Proportionen der Sternwelt für das Auge so zusammenzuziehen, daß unverkennbar leibliche daraus wurden. Der Sehende wurde künstlich mit einem Auge begabt, welches entweder, wie im Fall der Vergrößerung, einem winzigsten Lebewesen angehörte, für das der Leib bereits astronomisch ausgedehnt erschien, oder einem hypergigantisch riesigen, für das die himmlischen Welten insgesamt zur Größe des menschlichen Leibes einschrumpften. An Stelle der vagen und als phantastisch geltenden philosophischen Spekulation trat die optische Tatsächlichkeit. Es konnte aber nicht ausbleiben, daß sich die Philosophie des uralten Themas in dieser neuen Art bemächtigte, und Euweuken mit einem Hab-ich-es-nicht-immer-schon-gesagt-Antlitz diese ungeheure Umwälzung in weihevoll idealistischer Weise ausschlachtete: So sei ihm immer schon zumute gewesen. Alles sei doch zuerst und zuletzt menschlich, und der menschliche Leib das Original aller Gestalten. Es gäbe eigentlich weder Mineralien noch Tiere noch Pflanzen. Wenn man das Auge nur gehörig bewaffnete, sei alles als menschlich ersehbar. Allein demgegenüber hob Geheimrat Pschakreff hervor, daß Euweuken gar nicht das richtige Fazit ziehe; wie dies begeisterten Idealisten oft passiere, daß sie das Herz statt des Hirns zwischen den Schultern trügen und blutwarme Schöße der Empfindung statt kaltblütig nüchterner Köpfe kultivierten. Das echte Resultat aus dem erstaunlichen Faktum sei der Relativismus in der Morphologie. Je nach dem Gesichtspunkt, je nach der Disposition des Sehenden könne die scheinbar einen und selbe Gestalt alle nur irgendmöglichen Formen annehmen, z.B. Euweukens Haupt diejenige eines verunglückten Kartoffelpuffers. Der sonst so markante Unterschied zwischen einem Nachttopf und dem berühmten Darwinisten Pfutsch sei unter gewissen Umständen hinfällig. Gleich darauf wurden mehrere sonst gebildete Leute in die Irrenhäuser abgeliefert, weil sie sich als aus lauter Tieren zusammengesetzt fühlten. Damit aber nicht genug: es liefen von einer Anzahl Anatomien und Sternwarten an Pschakreff die entschiedensten Absagen ein. Außer jenem von Pinter hinzugezogenen Astronomen konnte kein Mann der Wissenschaft die Ergebnisse Pschakreffs bestätigen; sämtliche Experimente mißglückten. Das war nicht angenehm zu hören. Selbst Niklas verzog sein Maul und war mürrisch. Seine Tochter söhnte sich mit ihrem Reporter wieder aus, und es setzte sogleich eine sehr kritische Haltung der Presse ein; Pschakreff wurde bereits leise diskreditiert. Ibloch und Pinter wiederholten die Versuche und bedienten sich dazu eines gesteigerten allererstklassigen Ultramikroskops. Das Resultat war frappant. Man sah in den Leichenteilen einer verunglückten Scheuerfrau, speziell in ihrem Blinddarm, die eigene Stadt mit den geringsten Einzelheiten, und Pinter war wie berauscht, als er mit einem Male sogar die Anatomie selber wieder erkannte. Der Enthusiasmus stieg aber aufs höchste: denn mitten in diesem Miniaturmodell der Akademie wurden bei fortgesetzter Vergrößerung die drei Herren erkannt, Niklas nicht zu vergessen, und zwar eben mit derselben Mikroskopie beschäftigt. Ibloch wurde erdfahl und flüsterte wieder und wieder, es ginge nicht mit rechten Dingen zu, und sie würden sich bis auf die verfluchten Leichenknochen blamieren. Pinter dagegen weissagte den vollkommenen Triumph über alle Skeptiker und Verleumder; er überredete den Geheimrat zur Einberufung einer zweiten Versammlung, und diesmal sollte sie nicht auf die Männer vom Fach eingeschränkt sein, sondern alle Gebildeten umfassen. Ibloch fügte sich notgedrungen darein; was sollte auch sonst geschehen? Man konnte das Problem nicht mehr liegenlassen und mußte, allen Anfeindungen zum Trotz, mutig die Macht der noch so absurd scheinenden Tatsachen für sich selber sprechen lassen. Das geschah denn auch sehr gründlich.
Die Demonstration war prachtvoll. Unter den Geladenen befand sich die gesamte geistige Elite, die Spitzen der Behörden, sogar ein prinzliches Ehepaar. Die akkuratesten Filmaufnahmen ermöglichten eine kinematographische Demonstration, welche sehr zweckmäßig mit den plausibelsten Dingen begann, sich nach und nach zum Ungewöhnlichen steigerte und mit jener Wiederholung der allernächsten Wirklichkeit der Umgebung, zuletzt mit den in der Scheuerfrau entdeckten Kopien der drei Entdecker selbst enden sollte. Auf jede Lösung des Problems, jede Interpretation war diesmal verzichtet und nach der Vorführung sollte der gesamte Apparat streng untersucht werden, um die Möglichkeit wenigstens eines Selbstbetruges auszuschließen, den Dr. Ibloch fast schon für vorliegend hielt und dieses lieber betonte, um die etwanige nachträglich Blamage abzuschwächen; eine Diplomatie, welche den Abscheu Pinters und auch den Unwillen Pschakreffs erregte. Das Publikum war animiert und ließ sich fortreißen. Die Prinzessin gab Zeichen des Beifalls, und schon begannen auch die krassesten Gegner angesichts der Evidenz der Phänomene zu wanken – da geschah etwas völlig Unerwartetes: das Filmband lief, als das letzte Bild auf dem Schirm erschienen war und spontane Begeisterung ausgelöst hatte, automatisch zum Befremden der drei Experimentatoren noch weiter und zeigte diese selber in eigentümlichen Situationen. Zu sehen war jetzt der Zuschauerraum selber samt demselben geladenen Publikum; davor die Bühne, auf der jetzt ein völlig unbekannter lächelnder Herr erschien. Er machte sich an einigen Leichnamen zu schaffen, die man darauf, nachdem er sich entfernt hatte, unter die Obhut des Niklas geraten sah. Sodann schlich der Herr vorsichtig in den kleinen Seziersaal und behandelte dort liebreich, denn er lächelte fortwährend so liebenswürdig, die optischen Instrumente, welche später in seiner Abwesenheit von unseren drei Herren mit dem bekannten Erfolge benutzt wurden. Kurzum, der Film lieferte selbsttätig zu allgemeiner Überraschung und Erheiterung das sichtbare Referat der Geschehnisse, und seine stumme Kritik war überwältigend. Vergebens aber hofften Pschakreff und die Seinigen, als bis aufs letzte alles repetiert worden war, auf den Schluß dieser Quälerei: sondern die nahe Zukunft erschien auf der Fläche. Der alte Niklas rang die Hände – Ibloch hatte sich vergiftet, und Pinter war irrsinnig geworden. Pschakreff wurde aufgebahrt, und man sah in der Folge sein Leichenbegängnis mit allen Einzelheiten. Man sah den Sarg versenkt werden, den Hügel sich wölben, einen Leichenstein aufragen. Dieses Denkmal wurde größer und größer. Auf ihm erschien jetzt das bei Reklamefilmen so beliebte neckische Spiel sich haschender und suchender Buchstaben und bildete eine flimmernde Inschrift:
„Himmel und Erde euch Esel bohren,
Ihr seid unwiederbringlich verloren!“

Es ist nicht mehr nötig, hinzuzusetzen, daß die Prophezeiung eintraf. Man weiß ja, wie z.B. das abergläubische Wort: „Zwischen Lipp’ und Kelchesrand schwebt der finstren Mächte Hand“ unzählige mörderliche Resultate gezeitigt hat. Im höchsten Grade wirkt es suggestiv, die eigene Leiche im Film zu sehen; gewissenhafte Leute fühlen dann eine gewisse Verpflichtung, bare Wirklichkeit daraus zu machen. Die Wissenschaft aber stand vor der Ära des ihr ganz neuen Problems ihrer mysteriösen Verspottung. Der Fall Pschakreff-Ibloch-Pinter wurde zum Präzedenzfall einer schauerlichen Reihe, in deren Verlauf kein Forscher mehr sich selber zu trauen wagte. Das ging so weit, daß selbst jahrelang sich bewährende Erfindungen und Entdeckungen von den Argwöhnischsten als blanker Mumpitz verschrien wurden, und es endete damit, daß die Vergangenheit revidiert wurde, und nacheinander förmliche Widerlegungen sämtlicher kulturellen Errungenschaften zu gelingen schienen. Kaplan Franz Kubus (die böse Zunge sagte zwar Inkubus) wies überzeugend nach, daß alle bisherige Wissenschaft vom Teufel besessen sei. Das Universitätsstädtchen, worin der selige Pschakreff gewirkt hatte, bekam den Spitznamen Film-Athen (es lag auch in der Nähe Ilm-Athens). R. Euweukens immer guter Schlaf war dermaßen gestört worden, daß er sich in aller Heimlichkeit ein Schaukelbett, eine Erwachsenenwiege herstellen und sich darin von seiner Gattin in Schlummer wiegen ließ. Beiläufig nannte man diese Dame hinter ihrem einst schönen Rücken Ninon de Belanglos; sie war die einzige radelnde Greisin der Stadt. Euweuken wurde uralt, ein leidenschaftlicher Greis; indessen weiß man vielleicht, aus eigener Erfahrung, wie leicht 130jährige Knaben ihre Leidenschaften beherrschen. Seine Schülerschar war so von ihm durchtränkt, daß sie seinen Geist bereits urinierte ... Genug mit diesem kargen Einblick durch ein schmales Guckloch in das wissenschaftliche Dasein der winzigen Gernegroßstadt ...

Solomo Friedlaender

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